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Karsta Synnatzschke     Berührungen   —   Wir in unserem Land

Aus den Jahren 1970 bis 2000

Pit unterrichtete an einer Ingenieurschule im Erzgebirge. Darüber hinaus war er mitten in einem Fernstudium an der Bergakademie Freiberg. Seine kleine Tochter Tina, die nicht mal zwei Jahre alt war, lebte in einer befreundeten Familie. Obwohl sie in seiner Nähe war, sah er sie nicht jeden Tag, weil die Zeit es nicht zuließ. Ich begegnete Pit zusammen mit meiner Tina Anfang Januar in Leipzig.  . . .


Tina Louisa schrieb für die Schule eine Erörterung. Das Thema hieß: »Bildet unsere Klasse ein Kollektiv?« Wir sahen in Tina Kristins Lexikon nach. »Ein Kollektiv ist eine durch gemeinsame Interessen und berufliche oder gesellschaftliche Aufgaben verbundene Menschengruppe.« Louisas Erörterung wurde fast zweitausend Wörter lang. Darin stand unter anderem: »Man kann zwar stolz sein, wenn man seine Schulzeit in einem guten Kollektiv verbracht hat. Aber ich glaube, daß man sich auch ohne Kollektiv entwickelt, sich seine Meinung bildet und klüger wird. Wichtig ist es, daß man Beziehungen zu anderen Menschen hat, seien dies Beziehungen in Form von Freundschaft, Kameradschaft und Liebe. Allein schafft der Mensch wenig.«  . . .

Tina Kristin schrieb noch Prüfungsarbeiten in Plauen. Danach berichtete sie: »Wir müssen saubermachen für die Ungarn. Wir arbeiten nach der Robinson–Methode: Warten auf Freitag.« Mit Plauener Ansichtskarten meldete sie sich für die Ferien bei den Großeltern in S. und bei Caroline an der See an. Bevor die Woche zu Ende ging, schrieb sie nochmal: »Im Internat ist geradezu der Teufel los. Ein deutsches Wort dringt kaum noch an mein Ohr. Alles Polen und Ungarn. Wenn man seinen Zimmerschlüssel haben will, spricht man am besten Russisch. Das ist bei mir die Einhundertdreizehn. Ich sitze jetzt auf dem Otto–G.– Platz und schreibe, nachdem ich mich aus dem Kaufhaus herausgekämpft habe. Es ist doch ziemlich klein für die vielen Massen. Aber ich muß das Opfer für die Besorgung zur Goldenen bringen.«  . . .


28.6.84 Mutter: »Ob Ihr im Fernsehen etwas von den Arbeiterfestspielen gesehen habt? Wir haben im II. Programm ein miserables Bild, so daß wir weder Bettina, die vorn auf der Tribüne saß, noch Hannes im Chor erkannt haben.«  . . .


12.06.89 Gerald, aus Karl–Marx–Stadt, Ansichtskarte mit Kyffhäuser: »Hallo Ihr! Lasse mal was von mir hören. Das V. Rockfestival in Leipzig (IG Rock) war spitzenmäßig. Berichte später. Am 07.07. fahre ich nach Radebeul. Konzert von 'Kaltfront', Fete auf dreijähriges Bestehen. Ich kenne jetzt eine Punkhorde. Komme diese Woche erst Freitag. Wollte schon mal eher kommen. Am Sonnabend gehe ich nicht weg. Bekomme Besuch (A.). Das Wehrlager war 'beschissen'. Die Verpflegung war elend. So Tschüß bis Freitag, Gerald.« Die Ansicht des Kyffhäuserdenkmals war mit Geralds Handschrift versehen. Zu Seiten von Barbarossa standen: »the Cure« und »Sisters of Mercy«.   . . .

Für den zweiwöchigen Aufenthalt in Bergen bezahlten wir für drei Personen insgesamt an Übernachtungskosten fünfzehn Mark, Bettwäsche zwölf Mark, Frühstück und Abendbrot fünfunddreißig Mark.  . . .


Ich schaltete Donnerstag spätabends den Fernseher ein. Ein bisschen wollte ich noch auströdeln und sehen, was im Land wieder gelaufen war. Pit schlief schon. Im Westfernsehen sah ich eine Szene, die zeigte, dass Leute mit Grenzposten debattierten. »Die sind aber nahe an der Mauer«, dachte ich. Dann wurden Bilder mit Presseleuten eingeblendet, denen Informationen über Reiseregelungen gegeben wurden. Ich verstand den Sinn der Mitteilung nicht, trotzdem sie kurz danach wiederholt wurde. Dann wurden wieder die Leute an der Grenze gezeigt. Beide Szenen kamen mehrmals im Wechsel. Erst als ein Moderator den Bildschirm einnahm und kommentierte, die Grenze sei offen, begriff ich, was ich gesehen hatte. Nur theoretisch. Ohne Gefühl. Ich ging ins Schlafzimmer und wollte Pit zum Aufstehen bewegen. »Die Mauer ist auf«, flüsterte ich. Er hörte wie immer nichts, wenn er schlief. Ich ging zurück, machte es mir auf der Couch bequem und guckte noch lange auf die Bilder, die das Fernsehen von der nächtlichen Mauer zeigte. Die Leute wurden mehr, die einen weinten, andere lärmten und lachten, manche fielen sich um den Hals als würden sie sich kennen. Ich war nur in der Lage, mich zu wundern, auch darüber, dass ich nichts Besonderes empfand. Im Bett sah ich ins Dunkel und wartete, dass ich einschlief. Auch am kommenden Morgen, als ich zur Arbeit ging, war es nicht anders. Alles war so theoretisch. Kristin regte sich auch nicht auf. Wir warteten auf weitere Nachrichten und die Zeitung.   . . .

31.12.89 Antje: »Über die vielen, neuen, noch nie dagewesenen Ereignisse in unseren beiden Deutschlands, den Umsturz in Rumänien, über den Tod des kommunistischen Sozialismus in Europa, über die fast nicht mehr vorhandenen Grenzen in Europa, über die demokratischen Bewegungen in unseren Nachbarländern ist man immer wieder erstaunt. Ich sage immer zu Klaus: Wie ist das schön! und freue mich. Große Freude besteht auch darüber, wie gut die DDRler und die BRDler sich verstehen, sich verhalten, sich mit offenen Armen und Herzlichkeit begegnen.«

 

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