Zurück zur Startseite
Karsta Synnatzschke     Berührungen   —   Wir in unserem Land

Aus den Jahren 1955 bis 1969

Im August 1955 kam auch Tante Else aus der Bundesrepublik in die DDR. Sie brachte ihre Enkelkinder Hille und Horst mit, um ihnen ihre Heimat zu zeigen. Kurz vor der Ankunft, als sie im Bus von der Kreisstadt bis zu uns fuhren, sah sich der Zwölfjährige um und fragte: »Sind das hier alles Russen?« Auch Anderes beschäftigte ihn. Am nächsten Tag war einer von Vaters Kunden im Laden, der im Bus mitgefahren war, und meinte: »Passen Sie auf, was der Junge sagt.«  . . .

Die Bundesrepublik war die zweitgrößte Industrienation der Welt geworden. Man sprach vom »Wirtschaftswunder.«

Meine Ferien verlebte ich im Westen. Hille, Antje und Horst waren oft im Gartenhaus am Stadtrand. Dort gab es Obstbäume und ein langes, gemauertes Schwimmbecken. Sie gingen auch baden im Zwischenahner Meer. Ich war überall dabei. Als ich mit Hille im Schloßgarten war, begegneten wir einer ihr bekannten Dame. »Willst Du nicht hierbleiben?«, fragte diese, als sie verstanden hatte, dass ich aus dem Osten war. »Nee,« sagte ich und schüttelte den Kopf. Zwischendurch fuhr ich eine Woche zu den alten Leuten nach Hohenkirchen, die nur noch eine Schwiegertochter hatten, die Carla hieß. Ich schlief in einer wohnlich eingerichteten Ecke des Dachbodens. Von dort konnte ich die vielen, in Reihe aufgehängten Holländerschuhe betrachten, die zum Verkauf bestimmt waren. Unten im Haus war ein Eisenwarenladen. Frau Bottjes verwöhnte mich sehr mit Essen und kaufte mir viele schöne Sachen. Jeden zweiten Tag schickte ich einen Brief nach Hause.

23.8.56 »Am Nachmittag fahren wir nach Wilhelmshaven, in das Aquarium und zur Helgoländer Vogelwarte. Heute sollen dort auch die Marineeinheiten einlaufen. Gestern Abend waren wir im Kino zu 'Don Camillos Rückkehr'. War das ein Unsinn. Vorher hat Frau B. noch eine Menge Sahnebonbons und dergleichen gekauft. Gegen fünf bin ich gestern ums Dorf herum spazieren gegangen. Als ich zurückkam, war Fau B. beim Kuchenbacken. Ich habe die Schüssel gehalten. Als der Kuchen eine Viertelstunde im Ofen war, blieb der Strom weg, da Drähte gerissen waren. Frau B. hat deshalb den Kuchen zur Frau vom Tierarzt gebracht, die ihn mit Gas gebacken hat. Die Leute hier denken immer, daß ich aus O. komme. Ich habe jetzt nämlich die schöne Jacke an, wie sie auch Hille hat, die gelbe Seite nach außen. Frau Bottjes fängt dann immer an über unsere Familie zu erzählen und das Ergebnis davon ist jedesmal, daß sie mich fragen, ob ich hierbleiben will. Ich komme mir vor wie im Schlaraffenland.«   . . .

Am 20. September 1955 hatte sich die UdSSR aus bisherigen Funktionen in der DDR zurückgezogen. Die DDR wurde zu einem souveränen Staat. Das Kommissariat wurde aufgelöst und durch einen russischen Botschafter ersetzt. [2]

1959, Anfang Dezember, waren die feuchten Tage gewichen. Es war schon Frost. Ich freute mich auf den sechsten Dezember. Neben dem Nikolaustag war es noch Vaters Geburtstag. An diesem Sonntag waren die Geschäfte in B. geöffnet. Mit Hans war ich am späten Nachmittag vor dem Kaufhaus Hotex verabredet. In vorweihnachtlicher Stimmung fuhr ich mit dem Bus in die Stadt. Hans war noch nicht da, als ich vor den Schaufenstern des Kaufhauses ankam. Ohne besonderes Interesse schaute ich die ausgestellten Textilien und Stoffe an, zwischen denen Weihnachtsschmuck glänzte. Nachdem ich einige Male an den Fenstern hin und her gelaufen war, blieb ich wieder stehen. Der Abendhimmel wurde dunkler. In den Schaufenstern war schon Licht. Ein ungutes Gefühl kam auf. Irgendwann lief ich dann los. Die Friedensstraße erstreckte sich lang. Endlich war ich am Friedhof. Dann noch ein paar Häuser bis zur Hausnummer vierundsechzig. Ohne Einladung war ich noch nie hingegangen. Was trieb mich jetzt? Wollte ich mich überzeugen, dass alles noch in Ordnung war? Um das Haus war es ruhig. Im hinteren Teil des Gartens lag es in der Dunkelheit, doch die Straßenlampe gab mir ausreichend Licht bis zur Haustür. Ich klingelte. Es kam niemand. Ich klingelte wieder; und dann noch einmal. Es war so still, hier konnte niemand sein. Langsam wandte ich mich um. Auf der Straße, am Gartenzaun entlang, blickte ich noch einmal rüber zu dem Haus. Dann lief ich zurück in die Stadt. Wieder ging ich zum Kaufhaus Hotex. Doch ich dachte nicht mehr daran, Hans hier zu finden. Ich ging die Treppe hoch bis in die Stoffabteilung zu Frau K., seiner Patentante Anna. »Ich finde Hans nicht, wir waren verabredet«, sagte ich. Ihre großen blauen Augen wurden noch größer. Ihre Ratlosigkeit machte mich mutlos. Mit dem nächsten Zug fuhr ich nach Hause und kam gerade zum späten Abendbrot in das Wohnzimmer. Es war Besuch da. Sprechen durfte ich nicht über das, was ich dachte und hoffte auf den nächsten Tag. Sobald am nächsten Morgen im Büro etwas Zeit war, rief ich bei Hans zu Hause an. Dort war niemand. Nun wählte ich die Nummer der Firma. Es wurde abgenommen, der Angestellte meldete sich. »Ich möchte Herrn B. sprechen«. »Sie sind nicht mehr hier. Gestern sind sie nach Westberlin«, kam sofort die Antwort. Der sechste Dezember war nicht nur Nikolaustag und Vaters Geburtstag. Es war das Datum, an dem Hans die DDR verließ.  . . .


Staatssicherheit 1969: Für die Weiterbearbeitung des Vorganges gibt es zur Zeit folgende Version: Der B. hat eine legale Einreise in die DDR abgelehnt. Für ihn wird deshalb eine totale Einreisesperre in die DDR beantragt. Es besteht noch die Möglichkeit, daß die B. und der B. absichtlich dieses Manöver bei den offiziellen Stellen, wie Arbeitsstelle der B. und Abt.I. durchführen, um jeden Verdacht von sich abzulenken. Das würde bedeuten, daß ein illegales Verlassen der DDR durch die B. nur durch Einschaltung einer Schleuserorganisation möglich wäre. Hierbei ist noch der Umstand zu beachten, daß wir trotz regen Briefwechsels zwischen B. und B. nur den letzten Brief des B. durch Einleitung einer Postüberwachung erhalten haben. Der IMV* wird die B. und ihre Verbindung weiter unter operativer Kontrolle halten. gez.Ltn.*

Schriftliche Anmerkung des Vorgesetzten: Möglichkeiten der Unehrlichkeit des IM in Betracht ziehen; ist die ganze Sache von der Gegenseite inszeniert worden um uns zu täuschen; deshalb für die nächste Zeit weitere Kontrollmaßnahmen; für den IM Kontrollaufträge in anderer Richtung ausarbeiten!

 

Zurück zur Startseite