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Karsta Synnatzschke Berührungen — Wir in unserem LandPrologJahrzehnte war das Leben in einer vorgezeichneten Bahn gelaufen. Es war überschaubar, kalkulierbar, Zukünftiges vorhersehbar. Nur das Ende blieb unbekannt. Der Weg durch dieses Leben war versehen mit staatlichen Wegweisern. Die Kennzeichnung ließ nicht viel Raum, es gab Mauern und andere Hindernisse, die Abwege unmöglich machen sollten. Wer nicht nach Veränderung strebte, existierte ohne Not. Alles fundamental Lebenswichtige wurde bei geringem persönlichen Aufwand geregelt. Da die sozialistische Gesellschaft durch ihre Mängel selbsttätig Bedürfnisse produzierte, die in absehbarer Zeit nicht erfüllt werden konnten, wurden die Menschen im Einzelnen aktiv, interessiert, kreativ und zeichneten sich schließlich durch besonderen Einfallsreichtum aus. Mit allem stießen sie zunehmend an Grenzen. Die Zeit wurde reif auszubrechen. Die Menschen waren gerüstet für die friedliche Revolution. Nicht beabsichtigt war, dass die Ordnung, in der man gelebt hatte, so gründlich aus den Angeln geriet. Während die Wandlung des staatlichen Systems nach dem letzten Krieg von den Leuten Umsturz genannt wurde, sammelte sich nun alles, was der Beseitigung der Diktatur des Sozialismus diente, unter dem Begriff Wende. Den Vorgängen konnte sich keiner entziehen. Auch nicht jene, die phlegmatisch, unbedarft oder überzeugt waren und den bisherigen Stil gern weitergelebt hätten. Nach der Wende waren meine Kinder noch meine Kinder, mein Mann blieb mein Mann, ähnliches Zwischenmenschliches blieb. Darüber hinaus hat sich so gut wie alles geändert. Die Entgleisung geschah ideell und materiell. Das Ideelle wurde in Frage gestellt, Materielles wurde schutzlos. Indem die Basis weitgehend entzogen worden war, hatte sich ein großer, freier Raum für neue Möglichkeiten eröffnet. Ich musste nicht nach ihnen suchen; sie ergaben sich. Wir waren vom Gebirge ins Flachland gezogen. Das Haus, in dem wir wohnen, ist mein Elternhaus. Der Bruch zwischen den Landschaften war groß, aber nichts Fremdes. Die Gegend hatte sich in dreiundzwanzig Jahren meiner Abwesenheit verändert. Die chemische Industrie war weiter ausgedehnt worden und hatte lebensbedrohende Umweltverschmutzung mit sich gebracht. Der Bergbau hatte noch viele Quadratkilometer unbewohntes und bewohntes Land umgegraben. Renaturierung von Menschenhand war während dessen auch gediehen. Bekannt sind die Geräusche der Ebene geblieben. Stimmen verfangen sich zwischen den Giebeln eng aneinander gebauter Häuser. Die ferne Mobilität auf der Landstraße setzt sich für mich um in hörbar ablaufende Zeit, die ich schon als Kind hier wahrnahm. Kein Fels steigert die Laute oder hindert sie, sich auszubreiten. Selbst Lärm wirkt kraftlos. Manchmal bringt der Westwind das Rauschen von der Autobahn bis zu unserem großen Dorf, das am Stadtrand von B. liegt. Mein Mann und ich haben nach dem Ortswechsel Jahre gebraucht, das alte Haus mit dem Hof, seinem Garten und den Nebengelassen zu reparieren und einzurichten. Währenddessen rührte sich Vergangenes. Ich lasse es zu, mich zu erinnern. Das geht nicht ohne Gedanken an weitere Personen und deren Lebensumstände. Die Geschichte des Einzelnen ist auch Geschichte Anderer. Zurück zur Startseite |